🔴 Der wichtigste Job der Welt - Teil 2

Geschichte

22:30 Uhr.

Das Bürogebäude ist fast leer, nur vereinzelt brennt noch Licht. Ich starre auf meinen Bildschirm, die Zahlen verschwimmen vor meinen Augen. Irgendwo hier muss die Lösung sein. Muss.

Thomas und Sandra sitzen im Konferenzraum nebenan, telefonieren, tippen, suchen auch nach einem Ausweg. 2,4 Millionen bis morgen früh. Als wäre das nicht schon unmöglich genug, hängen auch noch über 300 Arbeitsplätze dran.

Ich lehne mich zurück, reibe mir die brennenden Augen. Die erste große Herausforderung meiner Karriere, und ich bin völlig nutzlos. Nicht mal meine Präsentation konnte ich halten. Vielleicht hätte ich...

„Kaffee?"

Erschrocken fahre ich hoch. Martha steht in der Tür, eine dampfende Tasse in der Hand.

„Danke, aber ich... ich muss das hier..."

„Nehmen Sie." Sie stellt die Tasse auf meinen Schreibtisch. „Sie sehen aus, als könnten Sie's brauchen."

Ich nicke dankbar. Der Kaffee ist stark und süß.

Martha lehnt sich gegen einen Aktenschrank. „Steinbeiss, hmm?" Sie seufzt. „Meine Schwester arbeitet da, wissen Sie? Auch Reinigungskraft. Seit zwanzig Jahren."

Ich sehe auf. „Ihre Schwester...?"

„Maria. Sie kennt jeden dort. Die Arbeiter würden alles tun, um die Firma zu retten. Alles." Marthas Stimme wird leiser. „Ich hoffe nur, dass Sie das auch sehen können - durch all ihre Exceltabellen."

Ich will etwas Kluges erwidern, als ich durch die Glastür sehe, wie Sandra plötzlich innehält. Sie starrt auf ihren Bildschirm, klickt hektisch durch mehrere Dateien.

“Das kann nicht...” Ihre Stimme dringt gedämpft zu uns herüber. “Thomas, komm mal bitte!”

Thomas tritt hinter sie, beugt sich über den Laptop. Nach einem kurzen Moment winkt er mir zu.

“Entschuldigen Sie”, sage ich zu Martha und eile in den Konferenzraum.

Sandra zeigt auf ihren Bildschirm: "Hier, die Lagerlisten von Werk 2. Die wurden bei der ersten Prüfung übersehen, weil sie unter 'Ausbildungszentrum' abgelegt waren. Das war früher mal ein Schulungslager..." Sie öffnet weitere Dokumente. "Und hier, parallel dazu die Produktionsplanung der letzten drei Monate..."

Ich sehe, wie ihre Hände leicht zittern, während sie Zahlen in eine neue Tabelle überträgt.

"Wenn das stimmt..." Thomas beugt sich tiefer. "Sandra, bist du sicher?"

"Lass mich nachrechnen." Ihre Finger fliegen über die Tastatur. "Materialbestand Werk 1... plus Werk 2... minus laufende Aufträge... Sicherheitsreserve..." Sie stoppt. "Dreizehn Tage. Wir haben Bauteile für dreizehn Tage!"

"Was?" Thomas beugt sich noch näher. "Zeig her."

Gemeinsam überprüfen sie die Berechnungen. Zweimal. Dreimal.

"Das bedeutet..." Sandras Stimme ist heiser vor Aufregung. "Wir müssen Chen nicht sofort zahlen. Wir haben Zeit."

"Nicht viel", warnt Thomas. "Aber vielleicht genug..."

„Moment." Ich denke an Marthas Worte. „Was, wenn... was, wenn wir die Mitarbeiter mit einbeziehen? Wenn sie wirklich alles tun würden..."

Thomas sieht mich überrascht an. „Was meinst du?"

Ich hole tief Luft. „Ich... ich kenne da jemanden bei Steinbeiss."

Martha steht in der Tür. In ihrem Lächeln liegt etwas Warmes, fast Mütterliches.

Als wäre sie ein bisschen stolz darauf, dass dieser junge Mann endlich beginnt, über seinen Bildschirmrand hinauszuschauen.

Vier Stunden Schlaf!

Mehr war nicht drin nach der nächtlichen Krisensitzung. Thomas hatte darauf bestanden, dass wir alle wenigstens kurz nach Hause fahren. "Mit übermüdeten Köpfen treffen wir nur falsche Entscheidungen", hatte er gesagt.

Als ob ich hätte schlafen können.

7:30 Uhr. Ich stehe unschlüssig vor dem kleinen Besprechungsraum im dritten Stock. "Raum der Stille" steht an der Tür. Durch die Glasscheibe sehe ich Thomas und drei andere, die ich nur vom Sehen kenne. Sie sitzen um einen kleinen Tisch, Bibeln und Kaffeetassen vor sich. Thomas sieht müde aus, aber konzentriert. Nach der Nachtschicht trotzdem hier zu sein - das nötigt mir Respekt ab. Vielleicht steckt hinter seiner ruhigen Art doch mehr, als ich gedacht hatte.

Eigentlich sollte ich an meinem Schreibtisch sitzen, die Zahlen durchgehen, den Plan ausarbeiten. Dreizehn Tage sind nicht viel Zeit.

Thomas winkt mir zu. Zögernd öffne ich die Tür.

"Jonas, schön, dass du da bist." Er lächelt warm. "Wir lesen gerade Markus 10. Setz dich."

Ich rutsche auf einen freien Stuhl. Eine Frau aus der Rechtsabteilung reicht mir ihre Bibel. "Vers 35."

Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, bitten Jesus um die besten Plätze in seinem Reich. Ich unterdrücke ein Gähnen. Vier Stunden Schlaf waren definitiv zu wenig.

"Was meint ihr dazu?" Thomas schaut in die Runde. "Warum wollten sie die Ehrenplätze?"

"Naja, sie wollten was erreichen", sagt jemand. "Einfluss haben. Was bewegen."

Ich zucke zusammen. Das klingt erschreckend vertraut.

"Und wie reagieren die anderen Jünger?" Thomas' Blick bleibt an mir hängen.

"Sie sind empört", sage ich, den Finger auf Vers 41. Meine Stimme klingt heiser.

Thomas nickt. "Und dann kommt das Interessante. Jesus dreht ihre Vorstellung von Größe komplett um. 'Wer unter euch groß sein will, der soll euer Diener sein.'"

Ich denke an Martha. An ihre Schwester bei Steinbeiss. An die vielen Menschen, deren Existenzen auf der Kippe stehen.

"Ich hab das lange nicht verstanden", sagt Thomas leise. "Vor sechs Jahren sollte ich ein großes Projekt leiten. Beste Chance für die Karriere. Aber ich war so fixiert auf meinen Erfolg, dass ich die Menschen völlig vergessen habe."

Er lächelt schief.

"Das Projekt ist gescheitert. Komplett. Aber Gott hat mir dadurch etwas Wichtiges gezeigt."

"Was?" Die Frage rutscht mir raus, bevor ich nachdenken kann.

"Dass wahre Größe im Dienen liegt. Nicht in Titeln oder Positionen." Er sieht mich an. "Manchmal müssen wir runter von unserem hohen Ross, um wirklich etwas zu bewegen."

Beinahe gleichzeitig vibrieren unsere Smartphones. Sandra. Krisensitzung in zehn Minuten.

"Tut mir leid", sagt Thomas zu den anderen. "Pflicht ruft." Er steht auf, ich auch.

"Danke. Für... ihr wisst schon", murmle ich.

Alle schauen mich an, Thomas nickt nur.

Sandra wartet bereits auf uns. Ihr Gesichtsausdruck lässt mich erstarren.

"Chen Industries hat sich wieder gemeldet", sagt sie. "Sie wollen jemanden zu Steinbeiss schicken. Morgen Nachmittag. Um sich selbst ein Bild zu machen."

Thomas und ich tauschen Blicke.

Wir haben keine Ahnung, was Chen dort vorfinden wird.

Ende Teil 2

Diese Geschichte hat sich aus einem kleinen Gedanken entwickelt. Sie wird vermutlich vier Teile lang.

Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “Freitag sind wir durch“ Peters