đź”´ Reflexionen

Geschichte

Ich hänge hier schon seit der Eröffnung des Hafenblicks.

Fünfzehn Jahre, drei Renovierungen und unzählige Menschen habe ich kommen und gehen sehen. Lisa ist seit drei Jahren hier - dreimal die Woche als Aushilfe-Kellnerin neben dem Theologiestudium.

An manchen Tagen beobachte ich, wie sie morgens als Erste kommt. Dann steht sie kurz vor mir, richtet ihr dunkelblondes Haar und bewegt ihre Lippen in einem lautlosen Gebet, während ihre Finger kurz über das silberne Kreuz an ihrem Hals gleiten. Danach darauf übt sie ihr perfektes Lächeln. Das gehört zu ihrem Ritual, genau wie der Espresso an der Bar, bevor der erste Gast kommt.

Gerade ist wieder Mittagszeit. Die Sonne malt tanzende Lichtflecken auf die Tische, während sich das Restaurant füllt. Der Geschäftsmann am Fenster tippt ungeduldig auf sein Smartphone. Sein Laptop kämpft mit dem Wasserglas um den wenigen freien Platz auf dem Tisch. Viermal hat er schon auf die Uhr geschaut - ich zähle solche Dinge, man muss sich ja irgendwie die Zeit vertreiben.

Lisa gleitet heran, mit einer perfekt dosierten Kopfneigung. "Ihr Fisch wird mit besonderer Sorgfalt zubereitet", erklärt sie. "Der Koch achtet persönlich auf die perfekte Temperatur." Der Mann entspannt sich sichtbar. Lisas Hand streift kurz das silberne Kreuz an ihrem Hals.

Drei geschmeidige Schritte weiter wartet das Paar in der Ecke. Die Frau im roten Kleid, der Mann mit einem verdächtigen Schmuckkästchen in der Jackentasche. Während Lisa sich nähert, berührt sie wieder mal ihr Kreuz - eine unbewusste Geste, die ich in den letzten Wochen immer häufiger beobachte.

"Die Frische-Lieferung wird gerade verarbeitet", raunt Lisa. "Der beste Fisch der Saison." Sie zwinkert. Der Mann wird rot und schiebt das Kästchen tiefer in die Tasche. Amateur. Lisa wendet sich ab, ihr Lächeln perfekt wie immer, aber ihre Finger krampfen sich um den Bestellblock.

An der Bar sitzt Frau Weber, Stammgast seit Jahren. Ihr WeiĂźweinglas ist halb leer - oder halb voll, je nachdem, wie der Tag bisher lief. Lisas Schultern entspannen sich merklich. Bei Frau Weber muss sie wenigstens nicht schauspielern.

"Du kennst ja Peter", rollt sie mit den Augen. "Wenn er eine neue Zubereitungsmethode entdeckt hat..." Sie stockt kurz, als ihr bewusst wird, dass sie schon wieder eine Geschichte erfindet. Frau Weber gluckst verständnisvoll in ihr Glas, aber ich sehe, wie Lisa schluckt. Wieder eine Lüge, so routiniert von den Lippen wie das einstudierte Lächeln.

Zwischen den Gängen zu den Tischen hält Lisa kurz inne, direkt vor mir. Für Sekundenbruchteile erlischt ihr Lächeln. Sie atmet tief durch, streicht eine Haarsträhne zurück. Ihre Finger tasten nach dem Kreuz, aber diesmal lässt sie es schnell wieder los, als hätte sie sich verbrannt. Dann setzt sie ihre nächste Maske auf und der Tanz geht weiter.

Ich sehe alles. Die kleinen Schweißperlen an ihrem Nacken. Das kurze Zucken ihrer Mundwinkel. Die Art, wie ihre Fingernägel sich in ihre Handflächen graben, wenn sie denkt, dass niemand hinschaut.

Was ich nur ahne: Peter, der vermutlich in der KĂĽche flucht, weil es Probleme mit der TiefkĂĽhltruhe gab und der Fisch noch nicht aufgetaut ist.

Lisa richtet sich auf und wendet sich dem nächsten Tisch zu. Die Mittagszeit ist noch lange nicht vorbei, und während die Minuten verrinnen, kriecht die Hitze des Tages unerbittlich zwischen die Tische. Selbst die Klimaanlage scheint müde geworden zu sein.

Ich beobachte, wie Lisa ihre Runden dreht. Ihre Schritte sind nicht mehr ganz so geschmeidig wie am Morgen. Die Haarsträhne, die sie sich so sorgfältig aus dem Gesicht gesteckt hat, hat sich wieder gelöst.

Ein junges Pärchen möchte die Tageskarte sehen. Lisa beginnt ihre übliche Empfehlung - "Heute besonders zu empfehlen ist..." - aber mitten im Satz verstummt sie. Für einen Moment wirkt sie abwesend, als hätte sie vergessen, welche Version der Wahrheit für diese Gäste gedacht war.

"Entschuldigung", murmelt sie. "Es war ein langer Tag." Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, höre ich echte Müdigkeit in ihrer Stimme. Keine gespielte, keine, die zu einer ihrer Geschichten gehört. Einfach nur Müdigkeit.

Das Pärchen lächelt verständnisvoll. "Kein Problem", sagt die Frau. "Wir nehmen einfach zweimal den Fisch."

Lisa zuckt kaum merklich zusammen.

Ich sehe, wie sie kurz die Augen schließt. Ihre Lippen formen lautlos Worte - vielleicht eine neue Geschichte, vielleicht auch nur ein Stoßgebet. Als sie die Augen wieder öffnet, ist ihr Lächeln zurück. Aber es sitzt nicht mehr ganz so perfekt wie heute Morgen.

"Der Fisch...", beginnt sie, und fĂĽr einen Moment weiĂź ich nicht, welche Version der Geschichte jetzt kommt. Lisa anscheinend auch nicht.

Peter erscheint in der TĂĽr zur KĂĽche, seine Kochjacke fleckig vom hektischen Mittagsservice. Sein Blick findet Lisa, die ihre Bestellung aufgenommen hat und direkt auf ihn zukommt.

Ich kenne diesen Blick - er bedeutet nichts Gutes.

"Das Ehepaar von Tisch 7 hat sich gerade bei mir bedankt", seine Stimme ist leise, aber scharf. "Für die 'spezielle Zubereitungsmethode'. Und der Geschäftsmann von Tisch 3 war beeindruckt von der 'Frische-Lieferung'. Interessant - vor allem, weil einfach nur die Kühlung kaputt war."

Lisa weicht seinem Blick aus, ihre Hand unwillkĂĽrlich am Kreuz. "Ich musste doch irgendwas sagen..."

"Die Wahrheit hätte gereicht. Die Kühlung war kaputt, jetzt läuft sie wieder. Punkt." Peter verschränkt die Arme. "Du predigst doch sonst immer von Jesus und Wahrhaftigkeit. Was ist mit 'Eure Rede sei ja ja, nein nein'? Das hast du mir doch letzte Woche noch erklärt."

Ein älteres Ehepaar schaut neugierig zu ihnen herüber. Lisa tritt einen Schritt zurück, näher zu mir. Ich sehe, wie ihre Finger sich um ihr Bestellbuch krampfen. Die Bibelworte treffen sie wie kleine Pfeile.

"Die Gäste wären-"

"Die Gäste sind nicht dumm", unterbricht Peter. "Die durchschauen das. Weißt du, was mich am meisten wundert? Du studierst Theologie, redest von Authentizität - und hier spielst du Theater."

Lisa öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Sie kann es nicht glauben: Ihr Chef erzählt etwas aus der Bibel? Die Worte aus der Bergpredigt scheinen sie einzuholen. All die Vorlesungen über Wahrhaftigkeit, die Diskussionen im Bibelkreis - sie hatte es gewusst.

Die ganze Zeit.

Peter seufzt, seine Stimme wird etwas weicher. "Du machst einen guten Job, Lisa. Aber diese Geschichten... sie machen alles nur kompliziert." Er dreht sich um und verschwindet wieder in der KĂĽche.

Lisa steht noch einen Moment vor mir. Ihr Spiegelbild wirkt seltsam klein, fast verloren. Als sie sich wieder den Gästen zuwendet, sitzt ihr Lächeln schief.

Die letzten Gäste sind gegangen.

Das gedämpfte Licht der untergehenden Sonne färbt die leeren Tische golden, und zum ersten Mal heute kehrt Stille ein. Lisa wischt mechanisch über die Tische, ihre Bewegungen müde und schwer.

Irgendwo im Hintergrund läuft leise Musik. Eine Frauenstimme singt von Tagträumen.

Lisa hält in ihrer Bewegung inne. Sie kommt zu mir, lehnt sich gegen die Wand neben mir. Ihr Blick ist anders als sonst - keine geübte Pose, kein vorbereitetes Lächeln. Nur sie selbst, erschöpft und nachdenklich.

"Stimmt es, dass du noch nie eine Geschichte erzählt hast?", flüstert sie ihrem Spiegelbild zu.

Ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen, als sie sich selbst antwortet: "Nein, ich habe viele Geschichten erzählt."

Eine Pause. Das Tuch in ihrer Hand tropft leise auf den Boden.

"Und wieso?"

"Weil ich dachte, es wĂĽrde die Dinge einfacher machen."

Die Frauenstimme im Radio wird leiser, verschmilzt mit der Dämmerung.

"Und hat es das?"

Lisa schließt die Augen. Eine einzelne Träne läuft über ihre Wange. "Nein", flüstert sie. "Sie haben alles nur komplizierter gemacht."

Sie öffnet die Augen wieder, betrachtet ihr Spiegelbild. Zum ersten Mal, seit ich sie kenne, sieht sie sich wirklich an. Nicht um ein Lächeln zu üben oder eine Haarsträhne zu richten.

Sie sieht sich einfach nur an.

Dann greift nach ihrer Kette mit dem Kreuz. "Herr", flĂĽstert sie, "hilf mir, einfach ich selbst zu sein. Dein Kind. Das reicht doch, oder? Keine Geschichten mehr. Keine Masken. Nur... Du."

Der nächste Morgen kommt mit einem sanften Nieselregen, der die Scheiben des Hafenblicks mit feinen Tropfen überzieht. Das gedämpfte Morgenlicht lässt die Tische wie graue Inseln erscheinen.

Lisa erscheint als Erste. Ihr Haar ist noch feucht vom Regen, als sie ihren Mantel ablegt. Sie kommt zu mir, aber diesmal ist etwas anders. Kein langes Kämmen, kein aufwendiges Richten der Frisur. Sie steht einfach nur da und betrachtet ihr Spiegelbild. Ihre Hand streift das silberne Kreuz.

Ihre Lippen formen ein Lächeln. Kein einstudiertes, kein perfektes. Einfach nur ein Lächeln.

Dann dreht sie sich um und geht zur Bar. Der erste Espresso des Tages wartet.

Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

Johannes 8,32 (Neue Genfer Ăśbersetzung)

Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “reflektiert“ Peters