🔴 Vertrauen und Geduld sind Geschwister

Eine Geschichte, deren Idee aus einer jüdischen Erzählung stammt. Leider weiß ich nicht mehr, welche...

Hab´ einen gesegneten Tag, lieber Leser. Die Geschichte von heute habe ich vor ca. einem halben Jahr schon einmal veröffentlicht. Jetzt habe ich sie überarbeitet und “runder” gemacht. Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen :)

Heute:

  • Geschichte: Vertrauen und Geduld sind Geschwister

Geschichte

Vertrauen und Geduld sind Geschwister

Die Morgensonne bahnt sich ihren Weg zwischen den Hochhäusern hindurch und wirft lange Schatten auf die erwachenden Straßen, als zwei Teenager ihre Fahrräder aus dem feuchten Keller holen.

Der morgendliche Verkehrslärm wird vom Quietschen der rostigen Kellertür übertönt. Thomas und sein Bruder Michael haben ihr ganzes Leben zwischen Beton und Asphalt verbracht - Felder und Wiesen kennen sie nur aus dem Fernsehen.

"Heute wird alles anders", sagt Michael mit einem aufgeregten Glitzern in den Augen. "Ich will endlich verstehen, wo unsere Nahrung herkommt. Die Stadt ist nicht alles, was es gibt."

Die Frühlingssonne wärmt ihre Gesichter, als sie losradeln, raus aus der Stadt, deren Geräuschkulisse langsam verblasst.

Nach einer Stunde Fahrt erreichen sie die ersten Felder. Der erdige Geruch der frisch gepflügten Erde steigt ihnen in die Nase. Ein Bauer lenkt seinen Traktor in gleichmäßigen Bahnen über das Land. Die Brüder halten an und beobachten das Schauspiel.

"Was macht er da bloß?", fragt Thomas stirnrunzelnd. "Er wühlt die ganze Erde auf und hinterlässt hässliche Furchen. Das schöne grüne Land - alles kaputt!"

Der Wind trägt den Duft von feuchter Erde zu ihnen herüber.

Einige Felder weiter beobachten sie einen Bauern beim Säen. Langsam fährt er über einen Acker und ein komplizierter Mechanismus an seinem Traktor verteilt das Saatgut präzise in den zuvor gezogenen Furchen.

"Das wird ja immer schlimmer!", ruft Thomas und seine Stimme überschlägt sich fast. "Der wirft den guten Weizen einfach in den Dreck! Die Leute hier haben den Verstand verloren!"

Fassungslos schaut er seinen Bruder an. Sein Gesicht ist rot vor Aufregung. "Tut mir leid, Michael, aber das ist nichts für mich. Das ist mir zu blöd, ich verstehe diese Landleute nicht. Ich fahre zurück…"

Sein Fahrrad knirscht im Kies, als er wendet und davonradelt, zurück in die vertraute Betonwelt der Stadt.

Michael bleibt zurück, seine Hand gedankenverloren auf dem warmen Lenker seines Fahrrads. Etwas in ihm weigert sich, das Gesehene voreilig zu verurteilen.

In den folgenden Wochen zieht es ihn immer wieder hierher. Anfangs fühlt er sich wie ein Spion in einer fremden Welt. Eines Tages bemerkt ihn der Bauer und kommt zu ihm herüber.

"Du bist in letzter Zeit öfter hier", sagt er freundlich. "Interessierst du dich für die Landwirtschaft?"

Michael nickt verlegen. "Ich verstehe nur vieles nicht", gibt er zu. "Erst pflügen Sie alles um, dann säen Sie, und dann... warten Sie einfach?"

Der Bauer lächelt. "Weißt du, junger Mann, das Wichtigste in unserem Beruf ist Geduld und Vertrauen. Wir können den Weizen nicht schneller wachsen lassen, indem wir daran ziehen. Die Natur hat ihren eigenen Rhythmus."

Er bückt sich und zeigt auf einen kleinen grünen Spross, der sich gerade durch die Erde schiebt. "Siehst du das? Das ist das Wunder des Lebens. Wir bereiten nur den Boden vor und schaffen die besten Bedingungen. Den Rest übernimmt die Natur selbst."

Michael betrachtet den winzigen Spross mit neuem Respekt. In den folgenden Tagen entdeckt er immer mehr dieser zarten grünen Spitzen, die sich ihren Weg durch die aufgewühlte Erde bahnen. Mit jedem Besuch wachsen sie ein Stück höher, strecken sich der Sonne entgegen. Aus dem braunen Acker wird ein wogendes Meer aus saftigem Grün, das im Wind tanzt.

"Du musst das sehen!", sagt er zu seinem Bruder. "Es ist unglaublich!"

Thomas kommt tatsächlich mit. Gemeinsam stehen sie am Feldrand und bestaunen die Verwandlung. Die Sommersonne hat die grünen Halme in goldene Ähren verwandelt, die sich sanft im Wind wiegen.

Plötzlich erscheint ein riesiges Ungetüm am Rand des Feldes. Mit ohrenbetäubendem Lärm beginnt die Maschine, Bahn um Bahn durch den Weizen zu schneiden.

"Nein, nein, nein!", ruft Thomas entsetzt. "Jetzt ist er komplett übergeschnappt! Monatelang wartet er, bis alles wächst, und dann macht er es einfach kaputt!" Mit großen Augen schaut er seinen Bruder an: "Tut mir leid, das halte ich nicht aus! Ich habe keine Lust auf diese Leute... Aber du scheinst ja wirklich etwas in all dem zu sehen", fügt er noch hinzu, bevor er sich auf sein Rad schwingt und erneut verschwindet.

Michael bleibt. Er sieht zu, wie der Bauer mit seinem Mähdrescher die Ähren in einem großen Anhänger sammelt. Und dann in noch einem und noch einem.

Während er dem rhythmischen Brummen des Mähdreschers lauscht, durchfährt ihn plötzlich eine Erkenntnis: Aus jedem einzelnen Samenkorn, das der Bauer damals in die Erde legte, ist eine Ähre gewachsen, prall gefüllt mit neuem Korn.

Das Hundertfache der ursprünglichen Saat!

Seine Finger streichen über eine einzelne Ähre am Feldrand. Er zerreibt sie zwischen seinen Fingern und staunt über die vielen Körner, die herausfallen.

Er versteht vielleicht noch nicht den Sinn, aber er weiß jetzt, warum der Bauer all diese Dinge getan hat, die er sich nicht erklären konnte.

Ähnlich ist es auch mit den Werken Gottes: Wir Menschen sehen oft nur den Anfang und manchmal ein paar Zwischenschritte. Wenn etwas nicht sofort einen Sinn ergibt, wenn wir etwas nicht verstehen, sollten wir nicht voreilig urteilen oder uns abwenden.

Die wahre Ernte des Lebens, das wunderbare Ergebnis von Vertrauen und den hundertfachen Ertrag von Geduld - all das werden wir erst erkennen, wenn wir bei Ihm sind.

Übrigens, ab heute beginnt Thorsten wieder mit dem Vorlesen. Vielen Dank dafür 😃 

Wir hoffen, dass wir es in Zukunft hinbekommen, die Audio-Version der jeweiligen Geschichte gleich mit in den Newsletter zu packen. Das wär cool, oder? Statt lesen könntest du die Geschichte dann auch hören.

Jörg “eher Landei als Stadtmensch“ Peters