🟢Flügel der Morgenröte

Andacht

Wohin könnte ich schon gehen, um deinem Geist zu entkommen, wohin fliehen, um deinem Blick zu entgehen? Wenn ich zum Himmel emporstiege – so wärst du dort! Und würde ich im Totenreich mein Lager aufschlagen – dort wärst du auch! Hätte ich Flügel und könnte mich wie die Morgenröte niederlassen am äußersten Ende des Meeres, so würde auch dort deine Hand mich leiten, ja, deine rechte Hand würde mich halten!

Psalm 139, 7-10 (Neue Genfer Übersetzung)

Seit vier Wochen meide ich die Gemeinde.

"Vermissen dich im Fahrdienst", "Kommst du nächste Woche zur Bibelstunde?" Die Nachrichten lösche ich ungelesen.

Fünfzehn Jahre hat Pastor Weber uns durch alle Höhen und Tiefen begleitet: Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. Und jetzt drängt der Vorstand ihn mit 63 in den Ruhestand - "frischer Wind" nennen sie das.

Statt im Gottesdienst sitze ich auch diesen Sonntag wieder in diesem Café am anderen Ende der Stadt. Der Barista kennt meine Bestellung schon: Cappuccino, extra heiß. Laptop auf, Kopfhörer rein, Bibel-App offen. Eine digitale Mauer zwischen mir und der Gemeinde, die ich einst Familie nannte.

Auf dem Bildschirm der neunte Vers aus dem 71. Psalm: "Stoße mich auch jetzt nicht von dir, wo ich alt geworden bin; wenn meine Kräfte mehr und mehr schwinden – auch da verlass mich nicht!" Die Worte brennen sich in mein Gewissen.

"Ist hier noch frei?"

Unwirsch schaue ich auf. Graues Haar, warme Augen, dezenter Schmuck. Ich nicke knapp, schiebe meine Notizen beiseite - ein paar mitfühlende Gedanken zu Psalm 139, die ich Pastor Weber schicken wollte.

Ihr Blick streift meinen Bildschirm. "Oh, Logos-App? Die verwende ich auch für meine Predigtvorbereitung."

"Sie predigen?"

"Predigte." Sie bestellt Darjeeling, zwei Stück Zucker. Ihr Blick ruht auf meinen Notizen. "Der 139. Psalm... den kenne ich gut. War mein Halt in schweren Zeiten."

Ich will die Notizen zur Seite legen, aber etwas in ihrer Stimme lässt mich innehalten.

"Wissen Sie, als unsere Gemeinde mich zur Pastorin berief, dachten viele, das sei gegen Gottes Ordnung. Drei Älteste kündigten. Der Organist kam monatelang nicht. Die Briefe..."

Sie schüttelt leicht den Kopf.

"'Unbiblisch' war noch das freundlichste Wort." Sie rührt gedankenverloren in ihrem Tee. "Wie Psalm 139 sagt: 'Nähme ich Flügel der Morgenröte...' Manchmal wollte ich einfach wegfliegen."

"Was hat Sie bleiben lassen?" Die Frage kommt leise, fast gegen meinen Willen.

Ein warmes Lächeln erhellt ihr Gesicht. “Die Gemeinde. Nicht alle, aber genug. Und dann war ich zehn Jahre dort, bis es mich weiterzog.”

Sie nimmt einen Schluck Tee. “Letzten Monat habe ich sie nochmal besucht. Der alte Organist spielte zur Feier des Tages.” Sie lächelt. “Derselbe, der damals protestierte. Seine Enkelin leitet jetzt den Jugendchor.”

Ich nehme einen Schluck von meinem Cappuccino, doch er ist inzwischen kalt geworden. Krampfhaft greife ich nach den Notizen. Eine Ecke reißt ein.

Behutsam steht sie auf und legt ein paar Münzen auf den Tisch. "Die Gemeinde vermisst Sie bestimmt auch."

Ich starre auf den eingerissenen Psalm. Langsam geht sie fort.

Durch die großen Fenster des Cafés fällt das Licht der Morgenröte. Langsam ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Mein Finger schwebt über den ungelesenen Nachrichten.

Dann tippe ich auf die oberste - sie ist von Pastor Weber.

Wieder eine “Andaschichte”: eine Andacht, aber als Geschichte erzählt. Wie findest du’s? Schreib mir kurz (es öffnet sich ein kleines Formular)

Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “Gott hat es nicht immer leicht mit uns“ Peters