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🔴 Ein Becher spuckwarmes Wasser
Geschichte
Die Julihitze flimmert über dem staubigen Feldweg, als ich meinen Wagen auf die verlassene Farm zusteuere.
Die letzten zwei Jahre hatte die Akte in meinem Schrank gelegen, zusammen mit Dutzenden anderen, die ich von meinem Vorgänger übernommen hatte. Vor drei Tagen erst fiel mir beim Durchblättern das vergilbte Schreiben auf - und seither raubt es mir den Schlaf.
Durch die verschmutzte Windschutzscheibe erspähe ich einen Mann in Arbeitskleidung, der sich in einem verdorrten Feld über einen rostigen Pflug beugt. Das muss er sein: John Currier.
Meine Hände zittern, als ich die Papiere aus meiner Aktentasche ziehe. Der Fall liegt fast dreißig Jahre zurück - ein betrunkener 16-Jähriger, der 1949 versehentlich einen Menschen erschießt. Lebenslange Haftstrafe, später “gemildert” zu Farmarbeit. Und dann dieses Schreiben von 1968, verstaubt und vergessen. Die letzten zehn Jahre hat Currier hier unnötig geschuftet, während wir seine Begnadigungsakte unbearbeitet im Schrank verwahrten. Und die letzten zwei Jahre davon gehen auf meine Kappe.
Vor Scham läuft es mir heiß den Rücken hinunter.
“Mr. Currier?”, rufe ich über das Feld, während die Mittagssonne erbarmungslos auf uns niederbrennt. Er richtet sich langsam auf, wischt sich mit einem verschlissenen Ärmel über die Stirn und nickt stumm. “Ich komme vom Bewährungsamt. Kann ich Sie kurz sprechen?”
Wir setzen uns in den Schatten der verwitterten Scheune. Seine Hände, rissig von jahrelanger Arbeit, umklammern einen Becher spuckwarmes Wasser.
"Ein guter Arbeiter", mischt sich der Farmer ein, der inzwischen im Türrahmen lehnt. "Macht keine Schwierigkeiten. Arbeitet für sein Essen und ein Dach überm Kopf. Mehr will er nicht." Er sagt es wie ein Lob, aber seine Augen sind kalt.
"Gute Führung", murmelt Currier, während ich seine Akte durchblättere. "Hab nie Ärger gemacht." Seine Augen fixieren den staubigen Boden, als erwarte er eine weitere Überprüfung, eine neue Auflage, mehr Arbeit.
Das Papier in meiner Tasche wird schwer wie Blei. Der Farmer hat sich nicht bewegt, ich kann seinen Blick im Nacken spüren. Er weiß, was kommt - ein kostenloser Arbeiter weniger. Ich suche nach Worten, die einem Jahrzehnt verlorener Zeit gerecht werden könnten.
Tief hole ich Luft. Der Moment, vor dem ich mich gefürchtet habe, ist da. Meine Stimme klingt fremd in meinen eigenen Ohren, als ich das Schreiben vorlese: "Begnadigung... mit sofortiger Wirkung... 1968."
Die Worte hängen in der staubigen Luft wie aufgescheuchte Vögel. In der plötzlichen Stille hört man nur ein leises Keuchen. Curriers Augen weiten sich kaum merklich, während die Bedeutung der Worte langsam einsickert. Der Farmer löst sich vom Türrahmen und verschwindet lautlos im Inneren der Scheune.
Curriers Fingerknöchel färben sich weiß, während er begreift, dass er ein Jahrzehnt seines Lebens verdorrtes Land bearbeiten musste, während die Quelle seiner Freiheit direkt vor seinen Augen sprudelt - verborgen nur, weil ihm niemand von ihr erzählte.
Minuten vergehen. Niemand spricht. Das einzige Geräusch ist das ferne Summen der Zikaden und das gelegentliche Klappern aus dem Inneren der Scheune, wo der Farmer sich betont laut zu schaffen macht.
Schließlich falte ich das Schreiben zusammen. "Sie können gehen, Mr. Currier. Jetzt sofort, wenn Sie möchten."
Er nickt nur, erhebt sich langsam. Sein Becher bleibt vergessen auf dem Holztisch stehen.
Als wir zu meinem Wagen gehen, bleibt Currier kurz stehen. Seine Augen wandern über die verdorrten Maisfelder. "Zehn Jahre", sagt er leise, "und ich hätte einfach gehen können." Er schüttelt den Kopf. "Hätte mir nur jemand Bescheid gesagt."
Da ist keine Anklage, nur Trauer.
Auf der Rückfahrt denke ich an die anderen Akten auf meinem Schreibtisch. Wie viele warten noch auf eine Nachricht, die ihr Leben verändern könnte?
Die Geschichte habe ich erfunden. Der Vorfall allerdings, der ihr zugrunde liegt, hat sich tatsächlich ereignet. Und er lässt mich nicht los, denn er wirft Fragen auf, die weit über ihn hinausgehen.
Stell dir vor, du hättest die Macht, Menschen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien - sei es aus realer Gefangenschaft oder aus den unsichtbaren Gefängnissen, die wir uns manchmal selbst bauen. Was würdest du tun?
Wärst du wie der Farmer, der die Situation einfach hinnimmt?
Wie die Justizbehörde, die zwar eine Begnadigung ausspricht, aber nicht sicherstellt, dass die Botschaft ihr Ziel erreicht?
Oder wie der Bewährungshelfer, der nicht ruht, bis die Nachricht der Freiheit tatsächlich beim Empfänger ankommt?
Als Christ frage ich mich: Wie viele Menschen in meinem Umfeld warten vielleicht auf eine Botschaft der Freiheit? Eine Botschaft, die schon längst ausgesprochen wurde, aber noch nicht bei ihnen angekommen ist?
Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “lass uns nicht vor der Antwort drücken“ Peters