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🔴 Der Mann in der ersten Reihe
Geschichte
„Ich pack's einfach nicht mehr", stöhnt Sarah und lässt sich auf einen Stuhl in der Bibliothek fallen. „Drei Prüfungen diese Woche und dann noch Bergers NT-Kurs."
Die theologische Fakultät ist an diesem Nachmittag gut gefüllt. Prüfungszeit. Sarah und ihre Freunde haben sich in eine ruhige Ecke zurückgezogen. Zwischen halb leeren Kaffeetassen und Skripten breiten sich ihre Notizen aus.
„Weißt du", sagt Tom, während er gedankenverloren durch seine Mitschriften blättert, „eigentlich ist es faszinierend. Paulus reist durch die ganze antike Welt, gründet Gemeinden, schreibt Briefe, die wir heute noch lesen..." Er gähnt. „Aber gerade fehlt mir echt die Energie, mich da reinzudenken."
Sarah nickt. „Meine Cousine hat den Kurs letztes Jahr gemacht. Sie meinte, man muss vor allem die Reihenfolge der Städte kennen und die wichtigsten Ereignisse. Der Prof fragt das immer ab." Sie kramt einen zerknitterten Zettel aus ihrer Tasche. „Hier, sie hat mir ihre Notizen gegeben."
„Das hilft", sagt Tom. Er beugt sich über den Zettel. „Schau mal, wenn wir uns das wie eine Reiseroute vorstellen: Erst Antiochia, dann der große Streit mit Barnabas - wie in jedem Drama braucht's auch hier Konflikte..." Er grinst.
Sarah lächelt müde. „Manchmal wünschte ich, ich könnte das alles besser verstehen. Nicht nur für die Prüfung." Sie seufzt. „Aber im Moment geht's mir ehrlich gesagt nur ums Bestehen. Wir müssen planvoll vorgehen, wir wissen ja, in welche Richtung die Prüfung geht."
Am anderen Ende des Raums sitzt Frank allein an einem Tisch. Seine Hände sind rau von der Baustelle, wo er heute Vormittag Steine geschleppt hat. Vor ihm liegt eine abgegriffene Bibel. Die Seiten sind voller Unterstreichungen und Notizen am Rand - nicht nur bei den Missionsreisen, sondern an vielen Stellen.
Manchmal hält er inne beim Lesen, schließt die Augen und scheint die Worte zu genießen wie einen guten Wein.
Die Gespräche der Studenten dringen zu ihm herüber. Er lächelt. Die jungen Leute erinnern ihn an sich selbst, damals, bei seinem ersten Studienversuch. Zwanzig Jahre ist das her. Die Narben an seinen Händen erzählen von mehr als nur Baustellenarbeit. Von einem Leben, das ihn durch Höhen und Tiefen geführt hat. Jetzt, mit 42, sitzt er wieder hier. Nicht weil er muss, sondern weil ihn etwas nicht loslässt.
Seine Finger streichen über die Seiten. Die Geschichten von Paulus... wie er in Philippi im Gefängnis sang, in Athen den unbekannten Gott verkündete, in Ephesus die Silberschmiede in Aufruhr brachte. Frank sieht die Städte vor sich, schmeckt den Staub der Straßen, hört die Menschenmengen. Seit Jahren hat er den Wunsch, diese Wege selbst zu gehen.
„Hey, Sie da!" Sarah hat ihn entdeckt. „Lernen Sie auch für Bergers Kurs? Wollen Sie sich zu uns setzen?"
Frank schüttelt freundlich den Kopf. „Danke, aber ich brauche hier die Zeit für mich."
„OK." Sarah lächelt ihm zu. „Aber wenn Sie Ihre Meinung ändern, kommen Sie gerne rüber."
Frank nickt ihr zu.
Dann ist der Tag der Prüfung da.
Der Hörsaal ist überfüllt, die Atmosphäre gespannt. Sarah und Tom werfen sich aufmunternde Blicke zu. Frank sitzt in der ersten Reihe, die Bibel vor sich auf dem Tisch.
Als Professor Berger die Umschläge verteilt, ist es still. Dann das Rascheln von Papier. Und dann - Stille. Aber eine andere Stille als zuvor. Eine erschrockene Stille.
„Schreiben Sie eine Kritik der Bergpredigt, wie sie von Jesus gepredigt wurde."
Sarah starrt ungläubig auf das Blatt. Tom flucht leise. Ihre sorgfältig strukturierten Notizen, die Karten, die Aufzeichnungen - alles vergeblich. Ein Raunen geht durch den Hörsaal.
Frank spürt, wie sich sein Herzschlag beschleunigt.
Die Bergpredigt!
Er denkt an den Kollegen, der ihm das Leben schwer machte - und wie er lernte, für ihn zu beten. An den Vorarbeiter, der ihn um seinen Lohn betrog - und wie das Vergeben schwer war und doch befreiend. An die Zeiten auf dem Bau, wenn die anderen spotteten und er trotzdem versuchte, Frieden zu stiften.
Die Bergpredigt …
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Wie oft hat er über Jesu Worte nachgedacht, während er mit geübter Leichtigkeit die Steine für eine Mauer setzte.
Die ersten Studenten verlassen den Saal. Sarah kämpft, versucht, die Worte Jesu theologisch einzuordnen, historisch zu analysieren, sich zu erinnern: “Was genau hat er gesagt?”
Frank öffnet seine Bibel. Seine Hand zittert leicht, als er zu schreiben beginnt:
„Eine Kritik der Bergpredigt zu schreiben bedeutet, vor dem Herzstück unseres Glaubens innezuhalten. Diese Worte haben mich gefunden, als ich sie am wenigsten suchte. Sie haben mich verändert, als ich mich am stärksten wehrte..."
Nach einer Stunde sind die meisten Studenten gegangen. Auch Sarah gibt auf.
Nach zwei Stunden sind nur noch eine Handvoll Studenten da. Tom gibt ab, vier Blätter hat er gefüllt mit seinen Überlegungen, doch innerlich fühlt er sich merkwürdig leer.
Die Stunden vergehen. Der Professor sitzt still an seinem Pult, während Frank, als einziger verbliebener Student, weiter schreibt. Nicht wie ein Theologe, der einen Text seziert. Sondern wie ein Mensch, der von diesen Worten berührt wurde und sie mit zitternden Händen weiterreicht. Er schreibt von den Sanftmütigen, die er auf der Baustelle traf. Von den Trauernden in seiner Gemeinde. Von den Situationen, in denen er selbst an der Bergpredigt scheiterte - und wie gerade diese Erfahrungen ihn Demut lehrten.
Später beim Korrigieren von Franks Arbeit wird der Professor zwischen den Zeilen etwas finden, das über akademisches Wissen hinausgeht:
Den leisen Widerhall einer Stimme, die vor zweitausend Jahren zu sprechen begann und auch heute noch hörbar ist.
Draußen vor dem Hörsaal treffen sich Sarah und Tom im Café.
„Das war's dann wohl", seufzt Sarah.
„Tja", sagt Tom und rührt in seinem Kaffee. „Wir dachten, mit systematischem Lernen kommen wir durch. Aber das hat uns bei dieser Aufgabe nicht geholfen." Zum ersten Mal seit Beginn seines Studiums fragt er sich, was er da eigentlich all die Jahre lernt.
Sie sind einen Moment lang still.
„Weißt du, was seltsam ist?", sagt Sarah schließlich. „Dieser Frank... ich glaube, für ihn war die Aufgabe gar keine Überraschung."
„Wie meinst du das?"
„Na ja..." Sarah sucht nach Worten. „Es war, als hätte er sein ganzes Leben lang für diese Prüfung gelernt. Egal, wie genau die Aufgabe ist. Nicht mit dem Kopf. Mit dem Herzen."
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Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “Jesus ist der Schlüssel“ Peters