🟢 Der Bücherwurm

Andaschichte

Ihr forscht in der Schrift, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu finden. Aber gerade die Schrift weist auf mich hin. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, obwohl ihr bei mir das Leben finden würdet.

Johannes 5,39-40 (Neue Genfer Übersetzung)

Die Bücherwände seines Arbeitszimmers ragen wie Festungsmauern um ihn herum. Seit Iris' Tod vor drei Monaten sind sie sein einziger Zufluchtsort - vertraute Wörter in alten Sprachen, die keine Antworten erwarten.

Es ist 19:03 Uhr und der Kaffee ist kalt. Professor Weber nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht. Iris hatte immer frischen Kaffee gemacht, wenn er zu lange über seinen Büchern saß. Dreißig Jahre lang hatte sie das getan, bis zum Ende.

Ihre Bibel liegt wie ein Fremdkörper zwischen seinen Fachjournalen auf seinem Schreibtisch. Eine "Gute Nachricht"-Ausgabe, die aussieht, als hätte jemand täglich in ihr gelesen.

Seine Finger streichen über die abgegriffenen Seiten. Wie oft hat er sich über ihre einfache Bibelübersetzung lustig gemacht? "Der Urtext, Iris, der Urtext ist entscheidend." Sie hat nur gelächelt und weiter in ihrer Ausgabe gelesen.

Einmal war er morgens in die Küche gekommen und hatte inne gehalten. Iris saß am Tisch, die Bibel vor sich, und sprach leise: "Ja, Herr, ich verstehe seine Sturheit. Du kennst ja Thomas..." Sie hatte gelacht, als teile sie einen privaten Scherz mit einem alten Freund. Er war wortlos zurück in sein Arbeitszimmer gegangen, irritiert von dieser Art von Frömmigkeit, die er nie verstand.

Der Johannes-Vers springt ihm förmlich entgegen. Sie hat ihn dick unterstrichen, mehrmals, als hätte sie gewollt, dass er ihn eines Tages finden würde: "Ihr forscht in der Schrift, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu finden. Gerade sie weist auf mich hin. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen."

Er greift nach seinem griechischen Neuen Testament, will den Vers im Original nachschlagen, aber seine Hand zittert. Unzähligen Generationen von Theologiestudenten hat er die alten Sprachen beigebracht. Hat ihnen gezeigt, wie man Texte analysiert, über die Feinheiten der Grammatik doziert. Hat sie die Liebe zur Schrift gelehrt.

Und Iris?

Sie hat einfach gelesen. Und gelebt.

Die Uhr zeigt 19:06. Das Ticken hallt durch den Raum wie ein stiller Vorwurf. Er schließt die Augen, will beten, so wie sie es immer getan hat. Will mit diesem Gott sprechen, den sie so gut kannte. Aber zum ersten Mal in seinem Leben weiß der Professor keine Worte.

Die Stille ist erdrückend. Zwischen all den Büchern, die von Gott erzählen, sitzt er da und spürt seine Fremdheit wie eine physische Last.

Sein Blick wandert über die Buchrücken seiner theologischen Bibliothek. Hebräische Grammatik, Textkritik, Entstehungsgeschichte - ein Leben lang hat er Gott in den Texten gesucht. Morgen früh wird er wieder vor seinem Seminar stehen. "Die Gottesbeziehung im Alten Testament". Eines seiner Lieblingsthemen. Erwartungsvolle Gesichter werden zu ihm aufschauen, werden seine Worte notieren, als wären sie Schlüssel zum Verständnis.

Der Gedanke, der ihn sonst mit stiller Genugtuung erfüllt hat, schmeckt heute bitter. Was weiß er schon von Gottesbeziehung?

19:09 Uhr. Seine Finger gleiten noch einmal über die unterstrichene Stelle in Iris' Bibel. Plötzlich ist sie wieder da, diese eine Morgendämmerung in der Küche. Iris am Tisch, die Bibel vor sich, ihr Kaffee längst kalt. "...und weißt du, Jesus", hatte sie geflüstert, "manchmal macht er es sich so schwer, mein Thomas." Ihre Stimme so zärtlich, als spräche sie mit einem vertrauten Freund. "Aber du kennst sein Herz besser als ich..."

Er hatte damals die Küche verlassen, beschämt von dieser intimen Szene. Jetzt, zwischen seinen Bücherwänden, trifft ihn die Erinnerung mit unerwarteter Wucht.

Diese Vertrautheit in ihrer Stimme.

Diese Nähe.

Seine Augen brennen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürt er eine Sehnsucht, die sich nicht mit Wissen stillen lässt.

Die Uhr zeigt 19:10.

Noch einmal faltet er die Hände.

Zwischen den Regalen voller heiliger Texte sitzt er da, ein Professor der Theologie, und fühlt sich dabei wie ein Analphabet. Seine Lippen sind trocken.

Dann schließt er die Augen.

“Lieber Jesus”, beginnt er zaghaft.

Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.

Lukas 19,10 (Neue Genfer Übersetzung)

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Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “ist einigermaßen wieder auf dem Damm“ Peters