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🔴 Als eine Tasse Tee noch fünf Pfennige kostete
Geschichte
Am Ende dieses Tages wird Fritz Meyer sich fragen, ob ein Mensch seine Seele bei einer Tasse Tee verlieren kann.
Der Münchner Hauptbahnhof riecht nach feuchten Zeitungen und Angst. Durch den beißenden Qualm der Lokomotiven dringen die gedämpften Stimmen der Zeitungsverkäufer: "Neue Gesetze gegen Juden!", "Synagogen geschändet!" Die Schlagzeilen schreien von den Titelseiten.
Fritz steht an diesem Morgen am Bahnsteig, seine abgegriffene Bibel fest unter den Arm geklemmt, und beobachtet das geschäftige Treiben. Eine alte Frau kämpft sich mit zwei überladenen Marktkörben die Treppe herauf.
"Warten Sie, ich helfe Ihnen!" Fritz eilt zu ihr. Während er die schweren Körbe nach oben trägt, erzählt die Frau von ihrer kranken Tochter, für die sie auf dem Markt frisches Gemüse gekauft hat. Fritz hört geduldig zu, auch als sie von ihrer Sorge um die Enkelin berichtet. Am Bahnsteig angekommen, will sie ihm einen Groschen geben.
"Nein, bitte nicht", wehrt Fritz freundlich ab. "Beten Sie lieber für mich. Ich trete heute meine erste Stelle als Prediger an." Er lächelt verlegen. "Und für die Kranken und Schwachen zu sorgen, das hat uns der Herr Jesus doch ausdrücklich aufgetragen."
Die Frau drückt seine Hand. "Gott segne Sie, junger Mann. Wir brauchen mehr Menschen wie Sie in diesen finsteren Zeiten."
Finstere Zeiten. Die Worte hallen in Fritz nach, während er zu seinem Abteil geht. Seit Wochen quält ihn die Frage, was es heute bedeutet, ein Christ zu sein, ein Nachfolger Jesu. Das Matthäusevangelium gibt eine klare Antwort: "Was immer ihr für einen meiner Brüder getan habt – und wäre er noch so gering geachtet gewesen –, das habt ihr für mich getan."
Aber wie weit darf, wie weit muss ein Christ dabei gehen?
Bedeutet dieser Vers nicht, dass Jesus die Menschen nach ihrem Verhalten gegenüber den Bedürftigen beurteilen wird? Zeigt er nicht, wie wichtig es ist, anderen in Liebe und Barmherzigkeit zu dienen, da diese Liebestaten letztlich Christus selbst gelten?
Der Zug kommt quietschend zum Stehen. Durch die beschlagenen Scheiben sieht Fritz nur Nebel und die Umrisse einzelner Häuser. "Technische Störung", ruft der Schaffner durch die Abteile. "Aufenthalt unbestimmt."
Das Gasthaus neben dem Bahnhof sieht aus wie ein Relikt aus der Kaiserzeit. Die Farbe blättert von den Fensterläden, über der Tür hängt ein verblichenes Schild: "Zur Deutschen Eiche". Fritz zögert. Etwas an dem Gebäude stößt ihn ab. Aber die Herbstkälte kriecht durch seinen dünnen Mantel.
“Ein Tee könnte helfen”, denkt er. “Nicht nur gegen die Kälte.”
Der Gastraum empfängt ihn mit dem säuerlichen Geruch von verschüttetem Bier und kaltem Rauch. Im Kamin glimmt ein kleines Kohlenfeuer, das mehr Qualm als Wärme produziert. An den Wänden hängen moderne Propagandaplakate neben vergilbten Bildern von Bismarck und Hindenburg.
Fritz setzt sich an einen Tisch nahe dem Fenster, seine Bibel griffbereit. Er versucht zu lesen, aber die Worte verschwimmen vor seinen Augen. Die Kälte des Raums scheint nicht nur von den undichten Fenstern zu kommen.
Die Tür öffnet sich mit einem leisen Knarren. Ein hagerer Mann mittleren Alters tritt ein, elegant gekleidet, aber der Anzug ist abgetragen, die Ellbogen blank. Sein Gesicht wirkt intelligent, fast professoral. Nur seine Augen huschen unruhig durch den Raum, als erwarteten sie Gefahr aus jeder Ecke. Im Vorbeigehen sieht Fritz den gelben Stern, nachlässig aufgenäht, als hätte sich die Hand dagegen gesträubt.
Der Mann gleitet auf eine Bank in der dunkelsten Ecke. Seine Finger, bemerkt Fritz, sind tintenfleckig - ein Gelehrter vielleicht, oder ein Schreiber. Wie viele seiner Art haben schon ihre Stellung verloren?
Aus der Küche dringen Geräusche. Ein Stuhl wird zurückgeschoben, schwere Schritte nähern sich. Der Wirt erscheint, ein untersetzter Mann mit hochrotem Gesicht. Seine Schürze spannt über dem Bauch, Bierflecken zieren sie wie Orden. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er den neuen Gast.
„Was willst du?" Der Wirt spuckt die Worte förmlich aus. Seine Fingerknöchel werden weiß, als er sich am Türrahmen festhält.
„Einen Tee, bitte." Die Stimme des Mannes ist leise, aber kultiviert. „Schwarz, wenn möglich."
Fritz beobachtet die Szene über den Rand seiner Bibel hinweg. Seine Finger krampfen sich um das abgegriffene Leder des Einbands.
Der Wirt schnaubt verächtlich. "Schwarzen Tee gibt's nicht für euresgleichen!" Seine Hand deutet grob zu den Propagandaplakaten. "Kannst froh sein, wenn du überhaupt was kriegst. Bin ja kein Unmensch." Er lacht grob und zwinkert Fritz zu. Dann spuckt er auf den Boden. "Vielleicht Pfefferminz. Muss ich aber erst schauen!"
In Fritz' Kopf hallt es: 'Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt...' Er spürt, wie sein Herz schneller schlägt.
„Dann... dann Pfefferminz, bitte." Der Mann streicht nervös über seinen Stern, als könnte er ihn wegwischen.
Der Wirt stemmt die Hände in die Hüften, seine Lippen werden zu einem dünnen Strich. „Zwanzig Pfennig. Im Voraus!"
„Aber das ist ja Wucher! Überall anders kostet ein Tee nur 5 Pfennig und das ist dann auch noch schwarzer!“
Erschrocken verstummt der Gast. Es ist, als ob ihm schlagartig zu Bewusstsein kommt, wo er ist und welchen Status er hier hat.
Fritz' Blick wandert zu den Propagandaplakaten an der Wand. Vor wenigen Stunden noch hatte er einer alten Frau geholfen, ohne zu zögern. Wie einfach war es gewesen, den richtigen Weg zu erkennen! Aber jetzt? Der aufgenähte Stern schien ihn anzustarren, wurde zur Prüfung seines Glaubens. 'Herr', betet er stumm, 'gib mir die Kraft...'
Der Wirt läuft rot an. Sein Gesicht verzieht sich zu einer hasserfüllten Grimasse und zwischen zusammengebissenen Zähnen quetscht er seine Drohung hervor: „Zahl jetzt, du Jude, oder ich zeig’ dich an!“ Speichel sprüht, als er zischt: „Wird Zeit, dass ihr alle...”
Er vollendet den Satz nicht, aber sein gemeines Grinsen sagt alles.
Fritz spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Die Bibel in seinen Händen scheint plötzlich zentnerschwer.
Zitternd legt der Gast zwanzig Pfennige auf den Tisch. Eine der beiden Münzen fällt ihm dabei auf den Boden. Leise klickernd rollte sie auf dem harten Fliesenboden in die Mitte des Gastraums. Mit rot unterlaufenen Augen starrt der Wirt ihn an.
Fritz' Kehle ist wie zugeschnürt. Er weiß, was Jesus tun würde. Was ein Christ tun müsste. Aber seine Lippen bleiben stumm, seine Beine wie gelähmt. Vor wenigen Stunden noch hatte er ohne Zögern einer alten Frau ihre Last abgenommen. Wie leicht waren ihm die schweren Körbe erschienen im Vergleich zu der unsichtbaren Last, eine kleine Münze aufzuheben.
Als der Mann sich aus der Bank quetscht, um die Münze zu holen, berührt er den Wirt leicht an der Schulter. Angewidert springt dieser zurück, als habe ihn etwas Giftiges gestreift. Dann keift er: „Jetzt hol schon das Geld! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“
Fritz beobachtet die Szene wie gelähmt. Er spürt förmlich die Wellen des Hasses, die vom Wirt ausgehen, während etwas in seinem Inneren schreit: "Tu etwas! Steh auf! Hilf ihm!"
Aber die Angst lähmt seine Glieder, schnürt ihm die Kehle zu.
Er sieht, wie der jüdische Gast sich bückt - langsam, als trüge er eine schwere Last auf den Schultern. Der Wirt steht über ihm, die Fäuste geballt, das Gesicht zu einer Fratze des Abscheus verzerrt. In Fritz tobt der Kampf zwischen Glauben und Furcht, zwischen dem Gebot der Nächstenliebe und der lähmenden Angst vor den Konsequenzen.
Als der Wirt kurze Zeit später zurückkehrt, hält er ein schmutziges Glas in der Hand, darin eine trübe Flüssigkeit mit ein paar vertrockneten Blättern, die an der Oberfläche treiben. Lieblos knallt er das Glas auf den Tisch, dass der Inhalt überschwappt.
Fritz sieht, wie der Mann die Hände um das Glas legt, als suche er Wärme. Aber er trinkt nicht.
"Na, schmeckt's nicht?" Der Wirt lehnt sich gegen den Türrahmen, die Arme verschränkt. "Zu fein für unseren Tee, was?"
Der Mann erhebt sich langsam, das Gesicht hart wie Stein. "Danke", sagt er leise. "Ich muss weiter." Beim Aufstehen schaut er Fritz an, kurz lächelt er und nickt ihm scheu zu.
Er geht zur Tür. Jeder seiner Schritte hallt durch Fritz' Gewissen wie Hammerschläge. Die Bibel liegt aufgeschlagen vor ihm wie ein stummes Gericht. Er wagt es nicht, die Worte zu lesen. "Herr", fleht er stumm, "ich weiß, was richtig wäre..." Der Geist in ihm seufzt mit unaussprechlichem Seufzen. Fritz fühlt den Kampf zwischen Fleisch und Geist, zwischen menschlicher Furcht und göttlicher Wahrheit. Seine Seele schreit nach Mut, während sein Körper wie gelähmt bleibt.
Draußen pfeift eine Lokomotive.
"Wer mich verleugnet vor den Menschen..." - die Worte schneiden in sein Herz. Er weiß: Sein Schweigen ist eine Verleugnung. Nicht nur dieses Mannes, sondern Christi selbst.
Fritz steht auf, mechanisch legt er zwanzig Pfennige auf den Tisch. Beim Hinausgehen spürt er, dass der säuerliche Geruch des Versagens an ihm haftet wie der Gestank des Kohlenfeuers.
Der Bahnsteig draußen liegt verlassen im Nebel. Fritz sieht die gebeugte Gestalt des jüdischen Mannes zwischen den Waggons verschwinden. Die Dampfwolken der Lokomotive verwischen seine Silhouette, als würden gnädige Engel ihn vor den Blicken der Menschen verbergen.
Irgendwo in der Ferne kräht ein Hahn.
Fritz erstarrt.
Gibt es da nicht diese Stelle in der Bibel? In der ein anderer schweigt, als er hätte sprechen müssen?
Der Hahn kräht ein zweites Mal.
Fritz schmeckt Galle in seinem Mund. Zwanzig Pfennige für eine Seele. Der Preis einer Tasse Tee.
Der Hahn kräht zum dritten Mal.
Fritz sinkt auf eine Bank. Der Geruch des Kohlenfeuers hängt in seiner Kleidung, erinnert ihn an den anderen, der einst am Feuer saß und schwieg. Petrus, der seinen Herrn verleugnete - und dem Jesus später am Kohlenfeuer am See die Chance zur Umkehr gab.
"Wir brauchen mehr Menschen wie Sie in diesen finsteren Zeiten", hatte die alte Frau am Morgen gesagt. Jetzt, während die ersten Tränen über seine Wangen laufen, erkennt Fritz die bittere Wahrheit: Mit seinem Schweigen war er selbst zu einem Teil dieser Finsternis geworden.
Vielleicht, denkt er, gibt es auch für mich einen neuen Morgen.
Einen Morgen, an dem ich nicht mehr schweigen werde.
Ein Morgen, an dem das Licht die Finsternis vertreibt.
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Hab’ einen gesegneten Tag
Jörg “wer will Fritz verurteilen?“ Peters